Der Stuttgarter Friedenspreis der AnStifter ging 2013 an Enio Mancini und Enrico Pieri. Die beiden Überlebenden des NS-Massakers im italienischen Sant’ Anna di Stazzema setzen sich seit Jahren für die juristische Aufarbeitung des Verbrechens und für internationale Verständigung ein.
Laudatio auf „Enio Mancini und Enrico Pieri“
Von Giuliana Sgrena
Ich bin außerordentlich glücklich und fühle mich sehr geehrt, dass mir die Aufgabe zuteil wurde, die Laudatio für den Stuttgarter Friedenspreis der AnStifter zu halten, der dieses Jahr an Enrico Pieri und Enio Mancini geht, zwei Überlebende des Massenmordes in Sant’Anna di Stazzema, stellvertretend für alle Überlebenden und für die Familien der Opfer.
Ich habe diese Aufgabe übernommen, weil mich das Thema Erinnerungsarbeit sehr stark beschäftigt, um nicht zu sagen, sogar gefangenhält. Ich komme aus einer Gegend Italiens, die durch die Partisanenrepublik Ossola im Piemont bekannt wurde und ich bin die Tochter eines Partisanen, der ebenfalls intensiv in der Erinnerungsarbeit engagiert war und viel darüber gesprochen hat. Meine große Sorge sind die Gleichgültigkeit, die Allgemeinplätze und die Versuche der Geschichtsklitterung, mit denen gesagt wird, dass alle Menschen Fehler begehen und dass doch alle gleich seien. Sant’Anna, Marzabotto und die Ardeatinischen Höhlen waren die grausamsten Massaker, die von den Nazifaschisten gegen die italienische Zivilbevölkerung begangen wurden.
Dieser Friedenspreis hat eine überaus wichtige symbolische Bedeutung, nicht nur, weil er von einer deutschen Vereinigung verliehen wird, sondern weil er Ergebnis einer intensiven Beziehung ist, die sich zwischen den AnStiftern und den Überlebenden beziehungsweise der gesamten Einwohnerschaft von Sant’Anna entwickelt hat. Er ist ebenfalls wichtig, weil er in zeitlichem Zusammenhang mit einem Ereignis verliehen wird, das viele Wunden wieder aufgerissen hat, die nie heilen werden: nämlich der Tod des ehemaligen SS- Mannes Erich Priebke, der 100 Jahre alt wurde, aber sich nie zu seiner Verantwortung für den Tod von 335 Zivilisten am 23. März 1944 bei den Ardeatinischen Höhlen in Rom bekannt hat.
Des weiteren ist Stuttgart Sitz der Staatsanwaltschaft, die die Einstellung der Strafverfolgung gegen die noch lebenden SS-Männer verfügt hat, die für das Massaker an 560 Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, verantwortlich waren. Aber auch Italien hat unerklärlicherweise 60 Jahre gewartet, um die Massaker juristisch aufzuarbeiten und Deutschland hat die Urteile nicht einmal anerkannt. Vielleicht könnte jetzt der Einsatz der AnStifter andere Wege öffnen, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun, um das zu erreichen, wofür sich Enio Mancini und Enrico Pieri seit Jahrzehnten einsetzen.
Dies wäre eine Gerechtigkeit, die nach 70 Jahren zwar lediglich eine Art moralische Wiedergutmachung sein könnte, aber die als Mahnung diente für nachfolgende Generationen, denen wir die Pflicht zur Wahrheit schulden. Dies wäre eine wichtige Form von “Wiedergutmachung” für die Opfer, nämlich zu wissen wer ihre Henker waren, und dieses Wissen weiterzugeben zu können. “Wir wollen keine Rache, sondern Gerechtigkeit” haben Enrico Pieri und Enio Mancini immer wieder betont. Eine Gerechtigkeit, die auch zukünftigen Generationen von Nutzen sein soll. Enrico Pieri und Enio Mancini sind durch die Tatsache vereint, Überlebende desselben Massakers zu sein, wenn auch in unterschiedlicher Form, und die Erinnerung an das, was passiert ist, lebendig erhalten zu haben. Sie sind nie müde geworden, Zeugnis darüber abzulegen, auch mit allem Schmerz, der damit verbunden sein kann.
An jenem 12. August 1944 erreichten die Deutschen Sant’Anna di Stazzema, ein Dorf in den Apuanischen Alpen in der Provinz Lucca, vor 7 Uhr morgens. Normalerweise lebten in den einzelnen Weilern des Dorfes rund 400 Einwohner, aber zu denen kamen Hunderte von evakuierten Flüchtlingen aus der Stadt hinzu. Die deutschen Soldaten, die von einigen einheimischen Faschisten begleitet wurden, näherten sich dem Dorf aus vier verschiedenen Richtungen, um eine etwaige Flucht der Einwohner zu verhindern. Enrico Pieri war damals 10 Jahre alt. Mit seiner Familie wurde er ins Nachbarhaus gebracht, zu den Pierottis, wo alle ermordet wurden. Er konnte sich retten, zusammen mit zwei Töchtern der Familie Pierotti. Grazia, eines der beiden Mädchen, zeigte ihm einen Abstellraum unter der Treppe, wo sie sich verstecken konnten. Als sie gezwungen waren, das Haus zu verlassen, weil ein Feuer ausgebrochen war, verbargen sie sich unter einem Haufen Bohnenstroh. Als sich am Nachmittag die Lage beruhigte, konnten sie sich in ein benachbartes Dorf retten. Um Enrico, der als einziger seiner Familie überlebt hatte, kümmerte sich dann ein Onkel.
Enio Mancini dagegen war damals 6 Jahre alt, er war mit seiner Familie zuhause geblieben, während der Vater mit anderen Männern zusammen aus dem Haus gegangen war, in der Annahme, dass die deutschen Soldaten nur nach Männern suchten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Mal alle zur Zielscheibe wurden. Die Bewohner des Weilers wurden zuerst vor der Kirche zusammengetrieben, dann getrennt. Enio und seine Familienangehörigen gerieten, nachdem sie sich zuerst zwischen den Bäumen versteckt hatten, an einen jungen Soldaten, der ihnen ermöglichte zu fliehen, während er in die Luft schoss, um bei seinen Vorgesetzten den Eindruck zu erwecken, die Befehle ausgeführt zu haben.
Erst vor einigen Jahren hat Enio den Namen des Mannes erfahren, der ihm und seiner Familie das Leben rettete. Ein Grund mehr eine Unterscheidung zu treffen – die oft so nicht gemacht wird – zwischen Deutschen und Nazifaschisten, mahnt Enio, der, wie auch Enrico, viele Freunde in Deutschland hat.
Enrico Pieri und Enio Mancini sind Zeugen entsetzlichen Grauens, ein Grauen, das nicht vergessen werden kann, auch wenn man am Anfang denkt, dass “Vergessen eine therapeutische Wirkung haben könnte”, wie Mancini sagt. Aber eine bessere therapeutische Wirkung – auch wenn dies ständig schmerzhafte Erinnerungen hervorruft – wird erzielt durch das Zeugnis ablegen, durch das Erinnern, um dem Vergessen entgegenzuwirken.
Dieser Weg umfasst unterschiedliche Trauerphasen, die notwendig sind, damit das Trauma erträglich wird, dieses paradoxe “Schuldgefühl”, überlebt zu haben. Und Mancini erinnert sich, wie wichtig es damals war, die sterblichen Überreste derjenigen zu sichern, die in Massengräbern begraben worden waren, um sie in das Beinhaus zu überführen, das 1948 gebaut wurde. Es folgte der Bau des “Museums des Widerstandes”, dessen Direktor Enio Mancini von 1991 bis 2006 war. Das Museum vervollständigte die Arbeit der Vereinigung der Märtyrer von Sant’Anna di Stazzema (gegründet 1971), “zur Aufrechterhaltung der geschichtlichen, zivilgesellschaftlichen und moralischen Werte, die von den Ereignissen des 12. Augusts abgeleitet werden können”. Vorsitzender dieser Vereinigung ist jetzt Enrico Pieri.
Enrico Pieri schlug einen anderen Weg ein, mit einem längeren Umweg. In den 1960er Jahren wanderte er in die Schweiz aus, in den Kanton Bern, wo Deutschland sehr nahe ist, auch wegen der Sprache. Aber die Ablehnung gegenüber allem Deutschen blieb. Und er hätte sich darin noch bestätigt fühlen können, denn zur Tragödie von Sant’Anna kamen nun noch die Demütigungen hinzu, die viele italienische Auswanderer erleiden mussten (die mir, fügt Enrico hinzu, oft in dem Verhalten wiederbegegnen, das heutigen Migranten gegenüber an den Tag gelegt wird). “Stattdessen reifte in mir die Idee”, so betont er, “dass wir ein politisches Projekt brauchen, das die Völker Europas vereint und mit dem wir die Tragödie des 2. Weltkrieges überwinden können”.
Und als er wählen muss, ob sein Sohn in der Schule Französisch oder Deutsch lernen soll, entscheidet er sich für Deutsch. Die Idee eines vereinten Europas überwindet das Tabu eines feindlichen Deutschlands.
Trotzdem, als er 1992 nach Italien zurückkehrt und gefragt wird, ob er sich an der Errichtung des Museums von Sant’Anna beteiligen will, weist er dies erstmal zurück. “Weil über meine Erfahrungen zu sprechen brachte jedes Mal diesen Schmerz zurück. Aber dann bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass die Jungen diese Geschichten hören sollten, von uns, die wir sie erlebt hatten, um sie kennenzulernen und jene Fehler nicht zu wiederholen” unterstreicht Enrico Pieri, der nun seit damals unermüdlich aktiv ist.
Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema wurde für lange Zeit und schuldhaft von den staatlichen italienischen Stellen vergessen. Aber Anfang der 1990er Jahre änderte sich die Situation, das ständige Engagement der Überlebenden hat die Institutionen in Bewegung gebracht: der nationale Friedenspark wurde eingerichtet, gleichzeitig renovierten deutsche Musiker die Friedensorgel. All diese Symbole sind zum Ziel zahlreicher Besucher geworden, nicht nur von Italienern.
Mit den Jahren ermöglichte uns die Einsicht, dass die Schrecken des Krieges dazu dienen können, eine friedliche Welt zu errichten, den Groll und den Hass zu überwinden und den Aufbau von Beziehungen zwischen unseren Völkern zu fördern, die beide Opfer ihrer Folterknechte waren, auch wenn hier wie da die Sympathien der Massen unzweifelhaft den deutschen und italienischen Faschisten galten.
Die Erinnerung an die Gräuel der Vergangenheit ist das einzige Mittel, um diese Gräuel zu überwinden, weil, wie Primo Levi betont: “Denkt immer daran, wenn es einmal passiert ist, dann kann es wieder passieren”. Und die Barbarisierung unserer Zivilgesellschaften ist ein Alarmsignal.
Enio Mancini schreibt am Schluss seines Buches: “das, was ich gesehen habe, bringt mich dazu, mit aller Macht den Krieg zu ächten, so wie es im Artikel 11 der italienischen Verfassung steht. Dieser Artikel 11 wird oft gedankenlos und unter einem Vorwand umgangen, mit Haarspaltereien und für die Interessen der internationalen Politik. Der Krieg kann nie menschlich sein, sondern ist immer das Gegenteil. Nie mehr Hass, Zerstörung und Tod. Nie wieder Krieg!“
Giuliana Sgrena
Stuttgart, 10. November 2013
Übersetzung: Ebbe Kögel, AnStifter Stuttgart Es gilt das gesprochene Wort