Friedenspreisträger 2010

2010 erhielt „Asylpfarrer“ Werner Baumgarten den Stuttgarter Friedenspreis für seine Arbeit im Spannungsfeld zwischen Menschenrechten, deren Umsetzung in praktische Tagesarbeit und der Fürsorge für den einzelnen Flüchtling, von denen bis zu 4.000 jährlich bei ihm Rat suchen.

Laudatio auf Werner Baumgarten
Von Dr. Bahman Nirumand

Wie sollen, wie können, meine sehr verehrten Damen und Herren, in den mir zur Verfügung stehenden wenigen Minuten die Verdienste eines Mannes gewürdigt werden, der sich seit Jahrzehnten für Menschen einsetzt, Menschen, die getrieben von politischer Verfolgung, von Armut und Verzweiflung in einem fremden Land Zuflucht suchen. Für Werner Baumgartens unermüdliches Engagement gibt es nach meiner Auffassung keine andere Begründung als tief empfundener Humanismus, durchdachter Sinn für Gerechtigkeit und eine Solidarität mit Menschen in Not. Baumgarten ist seit 1991 Asylpfarrer der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Stuttgart und seit der Gründung des Kirchenkreises 2008 Asylpfarrer des Evangelischen Kirchenkreises Stuttgart. 2001 hat sich sein Dienstauftrag in enger Kooperation mit dem Diakonischen Werk Württemberg auf den Bereich der württembergischen Landeskirche ausgedehnt.

Seit Jahren ist Pfarrer Baumgarten Mitgestalter und Ansprechpartner für Initiativen und zugleich aufnahme- und hilfsbereit für jeden Flüchtling. So haben ihm die langjährige Erfahrung und die beachtlichen Sachkenntnisse verbunden mit Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit eine hohe Kompetenz verliehen, die ihm erlaubt, in seinem Kampf für Gerechtigkeit und Solidarität keinen Widerstand zu scheuen und sich den nationalistisch und rassistisch angehauchten politischen und medialen Meinungsmachern öffentlich entgegen zu stellen. Dazu gehören Mut und Überzeugung. Das gilt auch für die häufigen Diskussionen mit Verantwortlichen bei Ämtern und Behörden. Durch Zusammenarbeit und Gespräche mit Parlamentariern, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden der Polizei und anderen Organisationen ist Baumgarten bemüht, diese Instanzen über die Lage der Flüchtlinge aufzuklären und Verbesserungen für ihren Lebensalltag durchzusetzen.

Natürlich kann Baumgarten die schwere und vielfältige Arbeit, die auf seinen Schultern lastet, nicht alleine erledigen. Ihm zur Seite steht der Arbeitskreis Asyl, dessen Aktivitäten und Initiativen hier ebenfalls gewürdigt werden müssen. Diesem Arbeitskreis, dessen Mitglieder ehrenamtlich tätig sind, und ihren Vorsitzenden ist es im Laufe der Jahre gelungen, zahlreichen Flüchtlingen die erforderliche praktische Hilfe zuteil werden zu lassen, die Öffentlichkeit über die Gesamtproblematik der Flucht aufzuklären und bei den Behörden soweit wie möglich die Interessen der Hilfesuchenden durchzusetzen. Als jemand, der zweimal in seinem Leben vor den Schergen der Diktaturen die Flucht ergreifen musste, erlaube ich mir, Ihnen Herr Baumgarten und auch Ihnen meine Damen und Herren vom Arbeitskreis Asyl im Namen der Asylsuchenden aufrichtig zu danken.

Doch ich denke, es wäre auch in Ihrem Sinne, wenn ich verbunden mit diesem Dank auch ein paar Bemerkungen zu den Gründen ihres Engagements und den Zielen, für die Sie sich einsetzen, zufüge.

Erlauben Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, zunächst freiheraus festzustellen, dass die Aufnahme von Asylsuchenden kein Akt der Gnade oder eine selbstlose Gabe der reichen Länder ist. Es ist vielmehr eine Pflicht, ein kläglicher und wohl vergeblicher Versuch, wieder gutzumachen, was diese Länder in weiten Teilen unserer Welt angerichtet haben und bis zum heutigen Tag anrichten. Um dies nachzuweisen genügt schon ein kurzer Blick auf die Geschichte.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

So lautet Artikel 1 der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Und in der Präambel der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika von Juli 1776 lesen wir: „Wir halten folgende Wahrheiten für unumstößlich: Alle Menschen wurden in Gleichheit erschaffen; der Schöpfer hat ihnen unveräußerliche Rechte gegeben, deren erste da sind: das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit, das Recht auf das Streben nach Glück.“

Dieser Unabhängigkeitserklärung folgte 1789 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Revolution, die unter dem Motto: Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit die unwiderrufbare Feststellung traf, dass „die Menschen frei und gleich an Rechten geboren werden und es bleiben.“

Der Geist, der in diesen drei Zitaten zum Ausdruck kommt, die Erkenntnis, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, dass die Menschen einzig aufgrund ihres Menschseins, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihres Glaubens und ihres Geschlechts gleichberechtigt sind, gehört zu den wunderbarsten Errungenschaften, die die Menschheit nach Jahrtausenden ihrer Geschichte hervorgebracht hat. Auf diese Errungenschaft kann der Westen stolz sein. Die Anerkennung der Menschenrechte hat die Entfaltung der Begabungen ermöglicht, die Wissenschaften, die Künste, die Literatur zur Blüte gebracht und sie hat nicht zuletzt zu der bisher besten Staatsform, der Demokratie, geführt, die zumindest ihrem Anspruch nach, ein Höchstmaß an Freiheit und sozialer Gerechtigkeit gewährleistet und die Rechte der Individuen garantiert.

Die Frage ist nun, wie weit der Westen im Laufe seiner bisherigen Geschichte diesem Anspruch gerecht geworden ist, in den eigenen Gesellschaften und außerhalb seiner Grenzen?

Die reale Geschichte jedenfalls liest sich wie ein Hohn auf die proklamierten Werte. Die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika war für die einheimische Bevölkerung des Kontinents mit unzähligen Opfern und mit Knechtschaft verbunden. Gegründet wurde ein Imperium der Weißen Rasse, in dem dunkel- und schwarzhäutige geknechtet, diskriminiert und durch mindere Rechte ausgegrenzt wurden. Auch in Europa tobte der Rassenwahn, der allen Bekundungen zu Menschenrechten und Demokratie zum Trotz noch bis vor wenigen Jahrzehnten offen ausgetragen wurde und Mitten des vergangenen Jahrhunderts in der Ermordung von Millionen Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und Sinti und Roma seinen Gipfel fand.

Die Bekenntnisse zur Demokratie und Menschenrechten hielten auch die selbsternannten Herrenmenschen nicht davor zurück, die außerhalb der Grenzen ihrer Länder liegenden Regionen zu plündern, auszubeuten und sie als Kolonien unter ihre Herrschaft zu bringen. Die reiche Beute verhalf dem Westen zu ungeahnter Wirtschaftsblüte, zur Anhäufung von Kapital, aber auch zum Aufbau eines Gewaltapparats, mit dessen Hilfe sie über Jahrhunderte den gesamten Globus unter ihre Kontrolle bringen konnten.

Aber selbst dann, als die geknechteten Völker sich zum Widerstand formierten und ihre Unabhängigkeit erlangten, setzte sich die Plünderung mit anderen Mitteln fort. Genau diese leidvolle Geschichte, die sich in der Gegenwart ähnlich fortsetzt, bildet, meine Damen und Herren, den Hintergrund und den eigentlichen Kern der wichtigsten Konflikte auf unserem Planeten. Hier liegen auch die Ursachen der Flucht, Gewalt, der Gegengewalt.

Wir, meine Damen und Herren, leben heute in einer globalisierten Welt, sagt man. Doch es gibt innerhalb dieser vereinheitlichten, globalisierten Welt Unterschiede, die uns trennen, die den einen Reichtum und Wohlstand bringen und den anderen Kriege, Armut und Entbehrungen bescheren. Was uns trennt sind also nicht, wie man uns weiß machen will, Rassen, Kulturen, Religionen. Uns trennen Fakten, Fakten, die demütigend, erniedrigend, entwürdigend und unzivilisiert sind.

Lassen Sie mich aus der Fülle der Fakten nur ein paar Beispiele herausgreifen. Bekanntlich gibt es zurzeit in unserer globalisierten Welt rund eine Milliarde Menschen, die an Unterernährung und Hunger leiden. Auf unserem Planeten stirbt alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger. Einer der Hauptgründe für diese Misere ist die erbarmungslose Zerstörung der Umwelt durch internationale Konzerne, ein anderer Grund die Landwirtschaftspolitik der Europäischen Union. Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD), deren Mitglieder ausschließlich dem Kreis der Industriestaaten angehören, zahlte 2008 ihren Landwirten mehr als 350 Milliarden Dollar an Subventionen für Produktion und Export aus. Die massiven Subventionen erlauben der EU, Agrarprodukte zu Dumpingpreisen anzubieten und somit Millionen Bauern in die bitterste Armut und den Ruin zu treiben. Menschen, die ihre materielle Lebensbasis verlieren, die ihre abgemagerten Kinder vor Hunger sterben sehen, empfinden eine tiefe Verletzung ihrer Würde. Gilt der Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ nur für bestimmte Völker und Rassen?

Es ist aber nicht nur der wirtschaftliche Druck, der die Menschen zur Flucht treibt, sondern auch der politische. Wie viele despotische Regime werden, wenn sie zur Wahrnehmung der Interessen der Reichen Länder bereit sind, von diesen unterstützt und mit modernsten Waffen ausgerüstet, Waffen die sie gegen ihre eigenen Völker einsetzen. Und denken sie an alle die Kriege, die in den letzten Jahren angezettelt und verheerendes angerichtet haben – für die Waffenindustrie ein lukratives Geschäft. Allein die beiden Kriege in Afghanistan und im Irak haben in diesen Ländern für Hunderttausenden Menschen den Tod und der Waffenindustrie hunderte Milliarden Gewinn gebracht. Vor wenigen Wochen schlossen die USA mit Saudi-Arabien ein Abkommen zur Waffenlieferungen in Höhe von 60 Milliarden Dollar. Ich frage mich, wofür ein Land wie Saudi-Arabien, das bereits über ein modernes Waffenarsenal verfügt, noch soviel zusätzliche Waffen benötigt.

Das, meine Damen und Herren, sind die Ursachen für die Flucht. Dennoch versuchen jene Staaten, die dafür mitverantwortlich sind, ihre Grenzen für politisch Verfolgte und wirtschaftlich Notleidende immer dichter zu machen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, bekunden sie, aber sie lassen ungerührt und kaltblütig jährlich tausende Hilfesuchende Menschen, die ihr letztes Hab und Gut den Schleppern gegeben haben, ungerührt im Meer ersaufen. Wie glaubwürdig ist eigentlich ein Land, das auf die Einhaltung der Menschenrechte pocht und gleichzeitig hunderte von Roma-Familien bei Nacht und Nebel abschiebt? Die finanziell mit fast hundert Millionen Euro ausgestatte Grenzschutzagentur Frontex sorgt dafür, dass es kaum noch einem Flüchtling gelingt, die Grenzen Europas zu erreichen.

Von den rund 45 Millionen Flüchtlingen weltweit kommt nur ein kleiner Bruchteil nach Europa. In Deutschland, das übrigens nach den USA und Russland der drittgrößte Waffenexporteur der Welt ist, suchten 2009 nur rund 27.000 Menschen Asyl. Letztlich anerkannt wurden 28 Prozent. Das ist eine Folge der Abschottung Europas. Sie hat den Weg der Flüchtlinge erheblich erschwert, unter anderem dadurch, dass Flüchtlinge, die über so genannte sichere Drittstaaten einreisen, ohne Prüfung abgeschoben werden. Zu solchen Staaten zählt zum Beispiel Griechenland, das nach eigenem Bekunden zur Aufnahme von Flüchtlingen nicht fähig ist. Im Jahr 2009 wurden über 13.000 Menschen von der Bundespolizei an der Einreise nach Deutschland gehindert bzw. unmittelbar nach der Einreise zurückgeschoben.

Jenen, die es gelingt, nach Deutschland zu kommen, wird das Leben so schwer gemacht, dass manch einer die Flucht bereut. Das soll wohl auch so sein, denn welchen anderen Sinn könnten all die restriktiven Gesetze und Einschränkungen sonst haben? Monate, gar Jahre lang andauernder Aufenthalt in menschenunwürdigen Sammellagern mit ungewissem Schicksal, ohne Rücksichtnahme auf kultureller und religiöser Zusammengehörigkeit. In den meisten Bundesländern dürfen Flüchtlinge ihren Aufenthaltsort nicht verlassen. Wer also in einem kleinen Dorf untergebracht wird, lebt Monate und Jahre in der unerträglichen Einöde, was bei zumeist traumatisierten Flüchtlingen zu lang anhaltenden psychischen Störungen führt. Noch unerträglicher als für Erwachsene ist es für die Kinder, die wie eingesperrt in engen Räumen ihre Kindheit verbringen müssen.

Asylsuchende dürfen im ersten Jahr überhaupt nicht arbeiten. Danach unterliegen sie der Arbeitsmarktprüfung durch die Arbeitsagentur, was nur in seltensten Fällen und unter höchst erschwerten Bedingungen zu einer Beschäftigung führt. Sie bekommen nur noch Sachleistungen und ein geringes monatliches Handgeld, für das sie sich und ihren Kindern kaum etwas kaufen können. Hat dieses Leben noch etwas mit der so viel beschworenen menschlichen Würde zu tun? Wie überhaupt können Menschen, die soviel Leid hinter sich haben und alle Gefahren der Flucht hingenommen haben, dieses Dasein noch ertragen? Kann man da noch zuschauen und dieses Schicksal von Menschen, die unter uns leben, unwidersprochen hinnehmen?

Nein sagen Pfarrer Baumgarten und der Arbeitskreis Asyl. Sie fordern Uneingeschränkte Arbeit für Asylbewerber, dezentrale Unterbringung in menschenwürdigen Wohnungen, Rücksichtnahme auf kulturelle und religiöse Zusammengehörigkeit bei der Wohnungsvergabe, Recht auf Kindergarten- und Schulbesuch für Flüchtlingskinder, Aufhebung der Residenzpflicht und dergleichen mehr.

Meine Damen und Herren, die Erfüllung dieser Forderungen ist angesichts der Fluchtursachen, die ich kurz erläutert habe, und angesichts der Bekundung zur Menschenwürde mehr als selbstverständlich. Das sollten sich all jene, die vom vollen Boot sprechen und die Grenzen für Flüchtlinge noch dichter machen wollen, hinter die Ohren schreiben.

Lieber Herr Baumgarten, nehmen Sie bitte meine Glückwünsche zum Erhalt des Stuttgarter Friedenpreises 2010 entgegen. Sie haben ihn mehr als verdient.