Etwas mehr als 200.000 Flüchtlinge kamen im vergangenen Jahr über das Mittelmeer, und allein 150.000 davon landeten an den italienischen Küsten. Viele Migranten aber überleben diese von Schlepperbanden und Menschenhändlern organisierten Fahrten auf oft kaum mehr seetauglichen Booten nicht. Menschenrechtsorganisationen und Migrationsforscher machen die Flüchtlingspolitik der EU mitverantwortlich für die katastrophalen Geschehnisse.

Der Zivilisationsgrad eines Landes lasse sich daran ablesen, wie es mit den Flüchtlingen umgehe, sagt Giusi Nicolini. Im Mai 2012 wurde sie zur Bürgermeisterin der Inseln Lampedusa und Linosa gewählt. Sie hatte sich zuvor bereits viele Jahre für den Umweltschutz engagiert, war Mitglied in der kommunistischen Jugend und in ihrer Heimat wegen ihres nicht immer populären Engagements vielen Anfeindungen ausgesetzt – bis hin zu Brandanschlägen. Kurz nach ihrem Amtsantritt schrieb sie einen mutigen, wütenden, offenen Brief – eine Anklage gegen die EU-Flüchtlingspolitik. Darin heißt es unter anderem: "Und so bin ich immer mehr davon überzeugt, dass die europäische Flüchtlingspolitik diese Opfer in Kauf nimmt, um die Immigration zu kontrollieren, womöglich sogar um abzuschrecken. Für die Menschen, die mit dem Schiff nach Lampedusa aufbrachen, war die Reise ihre letzte Hoffnung. Ihr Tod ist für Europa eine Schande." Am Wochenende war Giusi Nicolini zu Gast bei der Veranstaltungsreihe Flüchtlingsgespräche am Literaturhaus in Stuttgart.

ZEIT ONLINE: Frau Nicolini, Sie sind auf Lampedusa aufgewachsen. Wie hat sich der Ort Ihrer Kindheit in den vergangenen Jahren verändert?

Giusi Nicolini: Ich habe beobachten können, wie meine Insel gewachsen ist. Sie hat sich weiterentwickelt. Insbesondere, was die Stadtentwicklung angeht. Doch die grundsätzliche Rolle Lampedusas und all der anderen Grenzinseln in Europa hat sich nicht sonderlich gewandelt. Es gab und wird dort immer eine starke Militärpräsenz geben.

ZEIT ONLINE: Die Insel Lampedusa, die früher vom Fischfang, heute vom Tourismus lebt, ist gerade wegen ihrer Grenzposition zu einem Symbol geworden: zum Symbol einer humanitären Katastrophe, auch zum Symbol der Flüchtlingspolitik Europas.

Giusi Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa © Sebastian Wenzel

Nicolini: Das hängt von der Perspektive ab. Für mich ist Lampedusa nicht nur eine Insel, auf der sich eine menschliche Katastrophe ereignet, sondern auch eine Insel, auf der viele Rettungsmaßnahmen durchgeführt werden. Würde es die nicht geben, würden noch viel mehr Menschen sterben. Es ist nichtsdestotrotz eine Tatsache, dass Lampedusa in den letzten Jahren eine symbolträchtige Insel geworden ist. Das ist für mich aber auch etwas sehr Positives. Wenn Lampedusa in der Lage ist, einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Einwanderungs- und Asylpolitik in Europa ändert, dann wäre das meiner Meinung nach eine tolle Sache. Dies könnte möglich werden, wenn wir aus dem, was in Lampedusa geschieht, unser gemeinsames Erleben machen. Wenn der Rest Europas also nicht glaubt, dass all das einfach nur weit weg in Lampedusa passiert, sondern uns alle angeht. Die Landung von Tausenden von Menschen betrifft jeden einzelnen von uns. Ich würde mich darüber freuen, wenn Lampedusa in Zukunft nicht nur Symbol für eine menschliche Katastrophe wäre, sondern wenn Lampedusa auch mit Schönheit in Verbindung gebracht würde. Damit meine ich nicht nur die Natur. Ich meine mehr noch die Fähigkeit der Einwohner von Lampedusa, andere Menschen bei sich aufzunehmen.

ZEIT ONLINE: Erzählen Sie doch, was geschieht, wenn Schiffbrüchige auf Ihre Insel kommen. Was passiert mit diesen teils traumatisierten, von den unvorstellbaren Reisestrapazen zermürbten und erschöpften Menschen?

Nicolini: Wenn diese Menschen eintreffen, dann stets in Begleitung der Küstenwache. Sie legen an der Mole Favaloro an. Dort werden sie erst einmal medizinisch untersucht, und wenn sie krank sind, werden sie sofort in die jeweiligen Krankenhäuser auf Sizilien verlegt. An der Mole gibt es eine gut organisierte Struktur – Personal von humanitären Organisationen, aber auch von Gesundheitsorganisationen, es sind Ärzte dort. Die männlichen Flüchtlinge werden von den weiblichen getrennt, Minderjährige von Erwachsenen und gesunde von kranken Menschen. Es gab in der Vergangenheit und es gibt auch heute noch eine große Angst vor dem Import von Krankheiten wie Ebola. Unsere Erfahrung auf den Inseln Linosa und Lampedusa ist allerdings die, dass die Ankommenden gesund sind – sie sind jung, und sie sind gesund. Wahrscheinlich fand auf diesem langen und schwierigen Weg schon eine "Selektion" statt – nur wer physisch stabil ist, schafft es überhaupt nach Europa. Wenn die Flüchtlinge Krankheiten haben, dann haben die meist mit der Schiffsüberfahrt zu tun.

ZEIT ONLINE: Können Sie Beispiele nennen? 

Nicolini: Manche haben an den Schultern oder den Oberarmen Verbrennungen, wenn sie direkt neben dem überhitzten Motor auf den Booten saßen. Manche leiden an einem plötzlichen Nierenversagen, das hängt mit der Dehydrierung zusammen, die mit der langen Überfahrt einhergeht. Wenn alles in Ordnung ist, wenn sie untersucht wurden, kommen sie in die Sammellager. Dort werden sie identifiziert, soweit das möglich ist, und nach einigen Tagen werden sie in weitere Sammellager nach Sizilien oder auf das italienische Festland gebracht. Wenn das schnell geht, dann ist die Situation in Lampedusa unproblematisch. Wenn nicht, bricht in Lampedusa das gesamte System zusammen. Das kann zum Beispiel geschehen, wenn die Aufnahmelager auf Sizilien oder auch auf dem europäischen Festland überfüllt sind. Dann stoßen auch diese Auffangstellen in Lampedusa schnell an ihre Grenzen, und das ist für keinen gut. Wenn die Situation normal ist, bleiben die Flüchtlinge allerhöchstens drei oder vier Tage bei uns. Dann herrschen auch menschenwürdige Zustände.