Zum Inhalt springen

Roma-Mordurteile in Ungarn "Ein Zigeunerleben ist nicht so viel wert"

Können die Roma mit dem Urteil gegen vier Rechtsradikale zufrieden sein? Ja und nein, meint der Bürgerrechtler Aladár Horváth: Die Höhe der Haftstrafen sei der Schwere der Mordserie angemessen - doch Gerechtigkeit sei noch lange nicht erreicht.
Einer der Angeklagten im Gerichtssaal: Harte Urteile

Einer der Angeklagten im Gerichtssaal: Harte Urteile

Foto: ATTILA KISBENEDEK/ AFP

SPIEGEL ONLINE: Herr Horváth, im Prozess gegen die Roma-Mörder haben drei Angeklagte sogenannte tatsächlich lebenslängliche Haftstrafen bekommen, sie werden also, wenn das Urteil rechtskräftig ist, das Gefängnis nie wieder verlassen. Ein Komplize erhielt 13 Jahre Haft. Wie bewerten Sie diese Urteile?

Horváth: Die Haftstrafen sind sehr hoch ausgefallen, und das ist den Taten angemessen. Leider wurden sie aber nur für schlichten Mord aus niederen Beweggründen verhängt. In der Anklageschrift stand, dass die Mörder einen Bürgerkrieg entfachen wollten. Sie hätten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wegen Terrorismus mit dem Ziel des Völkermordes angeklagt werden müssen.

SPIEGEL ONLINE: Sie waren während des Prozesses oft anwesend. Wie beurteilen Sie den Verlauf?

Horváth: Um die Würde der Roma wiederherzustellen, bedarf es viel mehr als eines deutlichen Urteils, nämlich auch eines angemessenen Prozesses. Er hat sich leider unter drittrangigen Bedingungen abgespielt. Der Saal war sehr klein, es gab keine vernünftige Verstärkeranlage, man musste sich immer sehr anstrengen, um überhaupt etwas zu hören. Über den Vorsitzenden Richter László Miszori hieß es häufig, er sei gut vorbereitet gewesen. Das stimmt. Aber in so einem Fall braucht es mehr. Der Richter hat die Frage der politischen Motivation der Täter und die Frage der staatlichen Verantwortung in diesem Fall konsequent ignoriert.

SPIEGEL ONLINE: Werfen Sie den Behörden nur Schlamperei vor oder auch bewusste Verschleppung von Ermittlungen oder Vertuschung von Erkenntnissen?

Horváth: Wenn wir alle Mosaiksteine zusammenfügen, dann kann man schwindelerregende Schlussfolgerungen ziehen. Die Behörden haben nach den ersten vier Anschlägen keine zentralen Ermittlungen geführt, die Polizei hat an einigen Tatorten in absolut himmelschreiender Weise Spuren verwischt. Da denkt man als normaler Beobachter, dass das kein Zufall, sondern vielleicht Absicht ist. Bedauerlicherweise herrscht in den Behörden ein unausgesprochener institutionalisierter Rassismus. Überhaupt ist diese ganze Mordserie das Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses der Ausgrenzung, der Diskriminierung und der Segregation. Wir sind für die Gesellschaft überflüssig, weil wir in ihren Augen keine Produzenten sind, für uns sind die Ghettos am Dorfrand reserviert. Wir sind für die Mehrheit keine Menschen, und man kann uns umbringen.

SPIEGEL ONLINE: Wie hat die Mordserie die ungarische Gesellschaft verändert?

Horváth: Leider ist die Gesellschaft insgesamt nicht erschüttert gewesen, sondern im Großen und Ganzen gleichgültig und verschlossen geblieben. Leider gibt es auch keine Zivilgesellschaft, die aufsteht und sagt: Es ist eine Schande, dass kein Staatspräsident und kein Ministerpräsident die Überlebenden und Angehörigen empfangen hat.

SPIEGEL ONLINE: Was sagt es Ihrer Meinung nach über Ungarn aus, dass niemand aus der politischen Elite die überlebenden Opfer und die Angehörigen der Ermordeten empfangen hat?

Horváth: Es besagt, dass ein Zigeunerleben heutzutage bei uns nicht so viel wert ist wie ein ungarisches.

SPIEGEL ONLINE: Können solche Morde in Ungarn noch einmal passieren?

Horváth: Solange ein Land seine Vergangenheit nicht aufarbeitet, und da können wir zurückgehen bis zum Holocaust und zu den Verbrechen der kommunistischen Diktatur, solange die Gesellschaft diesen Taten nichts ins Auge sieht und sie durchlebt, solange können solche Morde jederzeit wieder geschehen.

Das Interview führte Keno Verseck